VG Gießen stellt Ausnahme vom Tötungsverbot nach § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 BNatSchG in Frage
« NewsübersichtLaut einer Pressemitteilung des Rechtsportals Juris vom 11.02.2020 hat sich das VG Gießen mit Entscheidung vom 22.01.2020 (Az.: 1 K 6019/18.Gl) zur Ausnahme im besonderen Artenschutzrecht gemäß § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 BNatSchG geäußert.
Eine bereits erteilte Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von drei geplanten Windenergieanlagen in Butzbach, Gemarkung Hoch-Weisel und Münster, wurde von einer klagebefugten anerkannten Umweltvereinigung beklagt. Das VG Gießen hat die Genehmigung aufgrund eines artenschutzrechtlichen Verstoßes aufgehoben. Das Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG sei in Bezug auf die Arten Wespen- und Mäusebussard verletzt. In der Pressemitteilung heißt es, dass ein „signifikant erhöhtes Tötungsrisiko für die örtliche Population“ der beiden Arten vorliege. An dieser Stelle ist anzumerken, dass das Tötungsverbot jedoch individuenbezogen zu verstehen ist.
Sofern trotz Berücksichtigung artspezifischer Vermeidungsmaßnahmen ein Verstoß gegen die artenschutzrechtlichen Verbote vorliegt, ist zu prüfen, ob nach § 45 Abs. 7 BNatSchG eine Ausnahme von den Verboten zugelassen werden kann.
Das VG Gießen ist allerdings der Ansicht, dass eine solche artenschutzrechtliche Ausnahme nicht „aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“ erteilt werden kann. Als Begründung führt das Gericht aus, dass die in Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie (Richtlinie 2009/147/EG) genannten Ausnahmetatbestände eine abschließende Aufzählung darstellen. Zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses nach § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 BNatSchG werden in Art. 9 Abs. 1 nicht aufgeführt. Da die Vogelschutzrichtlinie als europäische Richtlinie vorrangig anzuwenden sei, könne eine Ausnahme vom Tötungsverbot bei Vorliegen eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos nicht zugelassen werden.
Tatsächlich wird die Europarechtskonformität des Ausnahmegrundes des § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 BNatSchG in der Literatur und Rechtsprechung diskutiert. Eine andere europäische Richtlinie, die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (Richtlinie 92/43/EWG), sieht in Art. 16 Abs. 1 c) den Ausnahmetatbestand der zwingenden Gründe des überwiegenden Interesses vor. Sie es, dass dieser Ausnahmegrund als Erweiterung des Ausnahmekatalogs des Art. 9 Abs. 1 Vogelschutzrichtlinie einordnet oder eine Parallelität von Vogelschutzrichtlinie und Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie angenommen wird, jedenfalls führt es zu erheblichen Wertungswidersprüchen, wenn Infrastrukturprojekte wie etwa Windenergieanalgen nicht ausnahmefähig sind.
Die Entscheidung liegt derzeit noch nicht im Volltext vor, so dass die Argumentationslinie des VG Gießen im Einzelnen abzuwarten bleibt. Die weitere Entwicklung wird von uns beobachtet.
Schließlich hat das VG Gießen die Berufung zum VGH Kassel wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Da es sich vorliegend um die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben handelt, müsste die streitige Frage für eine abschließende Klärung dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik hat der EuGH in den bisherigen Entscheidungen vermieden. Daraus würde allerdings lediglich die Bindung des vorlegenden Gerichts und aller folgenden Instanzen an die Entscheidung des EuGH folgen.
Politische Bewertung
Das weitere Voranbringen des Ausbaus der Windenergie ist bereits jetzt aufgrund diverser rechtlicher Unsicherheiten erheblich ins Stocken geraten. Der vorliegenden Problematik könnte und sollte der europäische Gesetzgeber Abhilfe schaffen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, will mit ihrem „European Green Deal“ die EU bis 2050 klimaneutral machen. Vor diesem Hintergrund ist ein Hinwirken ihrerseits auf eine klarstellende Anpassung des Art. 9 Abs. 1 a) der Vogelschutzrichtlinie an den Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 c) der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie dringend geboten. Dies würde ohne die Investition hoher Summen Rechtssicherheit bei der Umsetzung dieser Richtlinie-Vorgaben in das nationale Recht schaffen.