Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetz: In dubio pro climate
« NewsübersichtDer brandaktuelle und innovative Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG, Beschl. v. 24.05.20211 - BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20 -) ist bemerkenswert und könnte sich zum Gamechanger für Anlagen Erneuerbarer Energien bei Zulassungsentscheidungen entwickeln.
Gegen das Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019 (KSG) wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben, die die Festlegungen des Gesetzes mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten als unzureichend rügten. Eine direkte Verletzung der aus den Grundrechten resultierenden Schutzpflichten des Staates oder des Art. 20a GG erkannte das BVerfG nicht. Hingegen stellte es eine Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem grundsätzlichen Freiheitsgehalt der Grundrechte mit außergewöhnlicher Argumentation fest:
Die konkreten Festlegungen des Gesetzes bestimmen die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen. Für die folgenden Jahre soll die Bundesregierung gem. § 4 Abs. 6 KSG im Jahr 2025 die Reduktionsvorgaben qua Verordnung regeln. Das Aufschieben erheblicher Emissionsminderungslasten auf spätere Jahrzehnte verletze die Beschwerdeführenden in ihren Freiheitsrechten. Die „Paris-Ziele“ konkretisieren den Art. 20a GG und sind damit grundgesetzlich verankert. Werden die verbleibenden Emissionskontingente derart ausgereizt, dass ab dem Jahr 2030 erhebliche Einschränkungen der Freiheitsrechte, eine „Vollbremsung“, riskiert werden, um die Reduktionsziele dennoch bis zum Jahr 2050 zu erreichen, steht dies nicht im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Den künftigen Generationen würde nämlich bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine erhebliche, grundrechtbeeinträchtigende Freiheitsbeschränkung auferlegt. Der Klimawandel ist nicht reversibel, weshalb bereits jetzt getroffene Entscheidungen eine „eingriffsähnliche Vorwirkung“ haben. Diese neue Figur, die in der Rechtswissenschaft sicherlich noch eingehend diskutiert werden wird, bezeichnet das Gericht als „intertemporale Freiheitssicherung“.
Aus diesem Grund wurde das KSG teilweise für verfassungswidrig erklärt. Es bleibt zwar weiterhin anwendbar, der Gesetzgeber muss aber nach Maßgabe der Ausführungen des BVerfG nachbessern. Dabei bleiben der Legislative verschiedene Möglichkeiten. Denkbar, aber nicht erforderlich ist es, bereits jetzt konkrete Vorgaben für das Absenken der Emissionsmengen zu regeln. Verlangt wird aber eine weitsichtige, realistische und transparente Regelung.
Die Entscheidung ist nicht nur wissenschaftlich interessant. Sie konkretisiert vor allem den Art. 20a GG, der zuvor als zahnloser Tiger wenig Durchsetzungskraft hatte. Nach dem Beschluss ergibt sich aus der Staatszielbestimmung eine Pflicht zum Klimaschutz mit dem Ziel der eventuellen Klimaneutralität. Die Entscheidung anerkennt insofern die Ziele des Pariser Abkommens als zulässige Ausgestaltung des Art. 20a GG. Zwar begründet der Artikel selbst keine subjektiven Rechte, vermag aber andere Verfassungsgüter zu bestärken. Er kann dazu dienen, Grundrechtseinschränkungen zu Gunsten des Klimaschutzes zu rechtfertigen. Die Verantwortlichkeit des Staates für künftige Generationen erhält hier erstmals praktische und erhebliche Relevanz.
Was aber bedeutet nun die Entscheidung für die Planung und Errichtung von Anlagen zur Erzeugung Erneuerbarer Energien? Bislang wurde Vorhaben Erneuerbarer Energien in verwaltungsrechtlichen und gerichtlichen Verfahren immer wieder die Annahme vorgehalten, der Art. 20a GG genieße keinen allgemeinen Vorrang vor anderen Verfassungsgütern, sprich: der Klimaschutz ist öffentliches Interesse wie jedes andere auch. Dies wiederholte auch der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, ergänzte die Klausel jedoch um eine einschneidende Wertungsvorgabe: Je weiter der Klimawandel voranschreitet, desto gewichtiger ist der Klimaschutz in der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern. Der Klimaschutz gewinnt also, mit zunehmendem Klimawandel, schlicht voranschreitender Zeit, an abstrakter Vorrangigkeit. Dies werden Gerichte und auch Genehmigungsbehörden nach diesem fulminanten Ausspruch durch das oberste Gericht in der Bundesrepublik kaum mehr umgehen können. In Abwägungs- und Ermessenentscheidungen erhält der Klimaschutz als öffentlicher Belang damit erheblich mehr Durchsetzungskraft. Nunmehr wird die Gegenseite argumentieren müssen, warum im konkreten Fall ein anderes Verfassungsgut ausnahmsweise überwiegen soll.
Diese Abwägung wird sich in Zukunft in nahezu allen EE-Projekten bemerkbar machen – vom großen Windpark bis zur kleinen, privaten PV-Aufdachanlage. Bei der Gewährung der artenschutzrechtlichen Ausnahme sollte spätestens jetzt klar sein, dass der Ausbau der Windenergie der öffentlichen Sicherheit dient und damit Ausnahmen auch von den Verboten der Vogelschutzrichtlinie zu gewähren sind. In denkmalschutzrechtlichen Angelegenheiten, bei denen es zu einer Abwägung zischen Denkmalschutz und Erneuerbaren Energien kommt, sind letztere nunmehr mit einem anderen Gewicht einzustellen: Es geht nicht mehr „nur“ um private Interessen des Eigentümers, die (auch) dem Klimaschutz dienen – es geht nunmehr mi dem Klimaschutz um einen Belang von Verfassungsrang. Und letztlich dürfte auch die Bundeswehr ihre liebe Mühe haben, alte und oftmals nicht benutzte Flugverfahren weiter so vehement zu verteidigen (Stichwort: Hubschraubertiefflugstrecke).
Dabei handelt es sich bei den genannten Bereichen nur um die genehmigungsrechtliche Durchsetzung von Erneuerbaren Energien. Wie sich die Entscheidung im Steuerrecht, im Vergütungsrecht und den damit verwandten Materien niederschlägt kann kaum beurteilt werden. Und nicht zuletzt die rein praktische Seite darf nicht vernachlässigt werden: Der Gesetzgeber wird nicht drumherum kommen, auch die Emissionsziele bis zum Jahr 2030 herabzusetzen. In diesem Zuge führt an einer Beschleunigung des Kohleausstiegs im Grunde kein Weg vorbei. Auch dies dürfte den Erneuerbaren zur weiteren Durchsetzung verhelfen.
So oder so, ab jetzt gilt: in dubio pro climate.