Windenergie – Zulässigkeit einer Windenergieanlage dicht an Bundesautobahn
« NewsübersichtOVG Berlin-Brandenburg: Keine Gefährdung der Verkehrssicherheit durch Windenergieanlage in unmittelbarer Nähe zur Bundesautobahn. Wirkungskraft von § 2 EEG auch im Bundesfernstraßengesetz.
Mit Urteil vom 16. Juli 2024 hat das OVG Berlin-Brandenburg (Az. 7 A 7/24) den Ablehnungsbescheid einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage (WEA) mit 110 m Entfernung zur A 12 aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Genehmigungsbehörde zurückverwiesen.
Der Sachverhalt: Gefährdung des Verkehrs durch Eisfall, Havarie und Schattenwurf?
Der Standort der geplanten Windenergieanlage liegt südlich der Autobahn innerhalb eines bestehenden Windparks mit neun Windenergieanlagen, wobei der Anlagenstandort nur 110 Meter vom Fahrbahnrand entfernt ist und die Rotorblattspitzen bis auf 41 Meter an die Fahrbahn heranreichen. In unmittelbarer Nähe befindet sich eine Raststätte, die über einen Ausfädelungsstreifen erreichbar ist. Das Fernstraßen-Bundesamt begründete die Ablehnung damit, dass der geplante Standort, die Dimension der Windenergieanlage und der geringe Abstand zur angrenzenden Bundesautobahn A 12 zu Beeinträchtigungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs führen würden (§ 9 FStrG). Im einzelnen führte das Fernstraßen-Bundesamt die folgenden Gefahren an:
- Eis(ab)wurf und Eis(ab)fall von den Rotorblättern,
- potenziell herabstürzende Anlagenteile im Falle von Havarien, sowie
- optische Beeinträchtigungen wie Schattenwurf und Lichtreflexionen.
Weiter sehe der Bundesverkehrswegeplan für diesen Abschnitt der A 12 einen sechsstreifigen Ausbau vor, der bisher jedoch nicht konkret geplant wurde.
OVG Berlin-Brandenburg: Vorrangprinzip von Windenergieanlagen nach § 9 Fernstraßengesetz
Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg war die Ablehnung des Antrags auf Genehmigung der Windenergieanlage durch das Fernstraßen-Bundesamt rechtswidrig. Laut § 9 Abs. 3 des Fernstraßengesetzes darf die Zustimmung der Verkehrsbehörde nur dann verweigert oder unter Auflagen erteilt werden, wenn dies zur Gewährleistung folgender Aspekte nötig ist:
- Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs,
- Ausbauabsichten
- Straßenbaugestaltung.
Das OVG stützt seine Entscheidung insbesondere auf den neuen § 9 Abs. 2b FStrG, der explizit auf § 2 EEG und die Beachtung der vorrangigen Belange des Ausbaus der Erneuerbaren Energien verweist:
§ 9 Abs. 2b Bundesfernstraßengesetz (FStrG)
Die Absätze 2 und 2a gelten nicht für Windenergieanlagen, wenn nur deren Rotor in die Anbaubeschränkungszone hineinragt. In diesem Fall ist die oberste Landesstraßenbaubehörde an Bundesfernstraßen und, soweit dem Bund die Verwaltung der Bundesfernstraßen zusteht, das Fernstraßen-Bundesamt in den Genehmigungs- oder Anzeigeverfahren für die Anlage zu beteiligen. Die für die Erteilung der Genehmigung oder für die Anzeige zuständige Behörde hat im Rahmen der Beteiligung die Stellungnahme der jeweiligen Behörde nach Satz 2 einzuholen. Bedarf es keiner Genehmigung oder Anzeige der Anlage, hat der Vorhabenträger die in Satz 2 genannten Behörden um eine Stellungnahme zu dem Vorhaben zu ersuchen. Bei der Errichtung und dem Betrieb einer in Satz 1 bezeichneten Anlage sind die in Absatz 3 und in § 2 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes genannten Belange zu beachten.
Bei der Auslegung des neuen § 9 Abs. 2b FStrG gelangt der Senat zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber eine gewisse Gewichtsverlagerung im Sinne einer zusätzlichen Stärkung des Vorrangprinzips für Windenergieanlagen auch im Kontext des Fernstraßenrechts vorgenommen habe. Vor diesem Hintergrund wies der Senat eine Sicherheitsgefährdung der Bundesautobahn in sämtlichen drei vorgelegten Risikobereichen zurück, betonte jedoch auch, dass „wegen der hohen Bedeutung der im Schadensfall potenziell bedrohten Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit sowie der möglichen weitreichenden Auswirkungen von Schadensereignissen {…} bei Anlagenstandorten in unmittelbarer Nähe zu mehr oder weniger stark frequentierten Straßen wie Bundesautobahnen gleichwohl ein besonderes Augenmerk auf die Prüfung zu legen {ist}, ob die Verkehrsteilnehmer beachtlichen Gefahren ausgesetzt werden.“ § 9 Abs. 2b FStrG führe weder zu einem „Automatismus“ der Genehmigungserteilung noch zu einer Erhöhung der Risikoakzeptanz, so das Oberverwaltungsgericht.
Nebenbestimmungen als milderes Mittel zur vollständigen Genehmigungsversagung
Insgesamt, so das OVG Berlin-Brandenburg, könnten die genannten Risiken jedenfalls allesamt durch geeignete Nebenbestimmungen adressiert werden, sodass eine vollständige Ablehnung rechtswidrig sei.
- Eiswurf und Eisfall von den Rotorblättern: Der Senat äußerte zwar Zweifel an der Zuverlässigkeit von Schutzmaßnahmen wie automatischen Eisabschaltungen, Eiserkennungssystemen oder Rotorblattheizungen, kam jedoch zu dem Schluss, dass keine erheblichen Gefahren durch Eiswurf oder Eisfall nachweisbar seien.
- Gefahr herabstürzender Anlagenteile (Anlagenhavarie): Möglichen Gefährdungen des Verkehrs im Falle einer Anlagenhavarie könne durch Nebenbestimmungen wirksam begegnet werden. Dazu zählen etwa automatische Abschaltungen bei Unwuchtbetrieb oder verpflichtende, regelmäßige und fachkundige Prüfungen, Wartungen und Kontrollen sicherheitsrelevanter Bauteile durch den Betreiber.
- Optische Beeinträchtigungen (Schattenwurf und Lichtreflexionen): Auch mögliche Ablenkungen oder psychologisch nachteilige Wirkungen durch bewegte Rotorblätter, Schattenwurf oder Lichtreflexionen rechtfertigten keine Ablehnung der Genehmigung. Die bereits vorhandenen Windenergieanlagen in der Umgebung sorgen dafür, dass ein relevanter Verstärkungseffekt durch die neue Anlage nicht nachweisbar sei. Risiken durch Lichtreflexionen könnten zudem durch die Verwendung nicht reflektierender Farben oder entsprechende Nebenbestimmungen minimiert werden.
Die Genehmigung werde zudem nicht durch bestehende Ausbauabsichten der Straßenbaubehörde beeinträchtigt, da hierfür ein substanzieller Planungsstand erforderlich sei. Eine bloße abstrakte Absicht oder „Wunschplanung“ reiche hierfür nicht aus. Selbst wenn eine hinreichend konkretisierte Ausbauabsicht vorläge, sei angesichts der klaren Vorgabe in § 2 EEG eine sorgfältige Abwägung zwischen dieser Absicht und dem überragenden öffentlichen Interesse am Ausbau der Windenergie erforderlich.
Neue Perspektiven für Windenergie entlang von Verkehrswegen
Flächen entlang von Autobahnen und Bundesstraßen wurden bislang von den Behörden häufig pauschal ausgeschlossen, oft auf Basis von Gefährdungseinschätzungen, die in der Praxis nicht immer haltbar sind. Mit der klaren rechtlichen Grundlage in § 9 Abs. 2b FStrG und der eindeutigen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts rückt das erhebliche Potenzial dieser Standorte stärker in den Fokus. Gerade entlang von Verkehrswegen können viele Konflikte vermieden werden, die in dicht besiedelten Gebieten auftreten. Der Gesetzgeber hat dieses Potenzial nicht nur für Windenergie erkannt, sondern auch für Photovoltaikanlagen (§ 9 Abs. 2c FStrG). Die Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten entlang von Verkehrswegen könnte somit einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten.
Ob es den Verweis auf § 2 EEG für dessen Wirkungskraft im Bundesfernstraßenrecht tatsächlich benötigt, bleibt dagegen fraglich, denn die Rechtsprechung zum Denkmalschutzrecht hat zuletzt erst die Durchschlagskraft von § 2 EEG ins Landesrecht auch ohne Verweis bewiesen.