Tracking pixel Urteil des EuGH – Stillstand im Artenschutzrecht? - Zugleich ein offener Brief an die Windenergiebranche, den eigenen Verband und an die Mandatsträger in allen Parlamenten, die die Energiewen · MASLATON Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

Urteil des EuGH – Stillstand im Artenschutzrecht? - Zugleich ein offener Brief an die Windenergiebranche, den eigenen Verband und an die Mandatsträger in allen Parlamenten, die die Energiewen

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Das mit Spannung erwartete Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 04.03.2021 (Rs. C-473/19, C-474/19) in dem durch ein schwedisches Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren bringt keine Bewegung in die europäische Rechtsprechung hinsichtlich der Auslegung des artenschutzrechtlichen Tötungsverbots. Anstatt die Chance zu einer Positionierung in Richtung Energiewende zu nutzen, hält der EuGH an seinem festgefahrenen Verständnis des Artenschutzrechts fest.

Vorabentscheidungsersuchen

Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens wurde insbesondere die Auslegung des Begriffs des „absichtlichen“ Tötens gemäß Art. 5 lit. a) der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 lit. a) der FFH-Richtlinie relevant. Dabei ist der Aspekt aufgeworfen worden, die Verwirklichung des artenschutzrechtlichen Tötungsverbots von dem Erhaltungszustand der jeweiligen betroffenen Art abhängig zu machen und damit eine Aufweichung vom individuenbezogenen Verständnis des Tötungsverbots zu erreichen. Konkret betraf dies die Frage, ob durch ein geplantes Vorhaben das Verbot erst dann verwirklicht wird, wenn durch die Realisierung als weitere Voraussetzung negative Auswirkungen auf die Population einer Art hinzukommen. Diese Frage hat ein schwedisches Gericht mit seinem am 18.06.2019 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

Schlussanträge der Generalanwältin

Mit Datum des 10.09.2020 stellte die Generalanwältin Kokott ihre Schlussanträge, mit denen sie eine Relativierung des individuenbezogenen Schutzansatzes empfahl und die Einbeziehung des Gefährdungsgrades der Populationen der betroffenen Vogelarten vorschlug.

Kokott zufolge sollen bei der Auslegung der Verbote der europäischen Richtlinien zum Artenschutz „unverhältnismäßige Einschränkungen“ vermieden werden. Sie tendiert zu einer abwägenden Populationsbetrachtung, wodurch weitrechende Einschränkungen menschlicher Aktivität aufgrund artenschutzrechtlicher Vorgaben vermieden werden sollen. Denn aktuell verwirklicht – ohne die Anordnung von Schutzmaßnahmen – nahezu jedes Verkehrsinfrastrukturvorhaben sowie auch jedes Windenergievorhaben das Tötungsverbot, weil sich eine Kollision eines einzelnen Exemplars jedenfalls nicht ausschließen lässt und als unvermeidbar in Kauf genommen werden muss.

Des Weiteren stellt sie den Unterschied zwischen den Verbotstatbeständen der beiden Richtlinien heraus: Die FFH-Richtlinie schützt seltene und gefährdete Arten, während die Vogelschutzrichtlinie auch sämtliche Allerweltsarten unter Schutz stellt. Die angeregte Aufweichung des individuenbezogenen Schutzansatzes soll laut Kokott nur auf die Allerweltsarten angewendet werden, denn diese Arten kommen gerade deshalb vielfach in Europa vor, weil menschliche Aktivitäten ihren Bestand nicht gefährden. Eine identische Auslegung der Absichtsbegriffe der Vogelschutzrichtlinie und der FFH-Richtlinie sei jedenfalls nicht sinnvoll.

Untätigkeit des EuGH

Dem EuGH obliegt die endgültige Auslegung der Vogelschutz- und FFH-Richtlinie; dessen Rechtsprechung hat das Verständnis der Richtlinien seit ihrem Erlass entscheidend geprägt. In seinen Urteilen folgt der EuGH dabei häufig den Schlussanträgen der Generalanwälte. Insofern überrascht es, dass das Gericht im gegenständlichen Vorabentscheidungsersuchen die Empfehlungen der Generalanwältin Kokott ablehnt.

In seiner Entscheidung erteilt der EuGH einer abwägenden Populationsbetrachtung eine Abfuhr. Das Gericht hat festgehalten, dass es bei der Prüfung der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände nicht darauf ankomme, ob die Population einer Vogelart insgesamt durch ein Vorhaben gefährdet sei, sondern weiterhin der Schutz einzelner Individuen im Fokus stehen müsse. Die Zugriffsverbote seien einer populationsbezogenen Relativierung unzugänglich und werden unabhängig vom Erhaltungszustand der Arten verwirklicht. Das Risiko, ob sich ein Vorhaben negativ auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art auswirkt, sei irrelevant für die Prüfung des Tötungsverbots. Mithin ist das Verbot auch weiterhin für diejenigen Arten relevant, die bereits einen günstigen Erhaltungszustand erreicht haben.

Folglich beharrt der EuGH auf seinem Verständnis von einem individuenbezogenen Schutzansatz und bleibt ohne mögliche Veränderungen hin zu einer Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Populationen in Betracht zu ziehen unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung untätig.

Anzumerken ist allerdings, dass in dem Vorabentscheidungsersuchen nicht explizit die Windenergienutzung behandelt wurde, sondern die Genehmigung zur Abholzung eines Waldes in Schweden, in dem auch geschützte Vögel leben. Dennoch muss die Entscheidung des EuGH auch von deutschen Gerichten bei der Prüfung der artenschutzrechtlichen Genehmigungsfähigkeit von Windenergieanlagen beachtet werden, da der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren rechtsfortbildend die Inhalte der Richtlinien festlegt.

Versäumnisse

Der Ausbau der Windenergie wird durch Einbeziehung immer unrealistischerer Vorgaben für die Bearbeitung des Artenschutzes im Genehmigungsverfahren und weitreichende Klagerechte von Umweltvereinigungen erschwert. Im Interesse der Energiewende besteht für den ins Stocken geratenen Windenergieausbau Nachbesserungsbedarf. Dennoch hält der EuGH den individuenbezogenen Maßstab der Artenschutzprüfung für gerechtfertigt, da sich Auswirkungen auf der Ebene der Population stets erst mittelbar aus kumulativen Beeinträchtigungen und Schädigungen von Individuen ergäben. Mit dieser Einschätzung rückt das Gericht jedoch die Zielsetzungen der beiden Richtlinien – die Bewahrung bzw. Wiederherstellung des günstigen Erhaltungszustandes geschützter Arten – in den Hintergrund, die dem Schutz der Populationen in ihrer Gesamtheit dienen sollen.

Auch an anderer Stelle blieb der EuGH untätig. So hat er in der Vergangenheit Gelegenheiten verstreichen lassen, auf die Anpassung der artenschutzrechtlichen Ausnahmegründe die Harmonisierung der Richtlinien insgesamt hinzuwirken, obwohl dies aufgrund offensichtlicher Wertungswidersprüche dringend angezeigt ist (wir berichteten bereits mit Meldung vom 13.02.2020, https://www.maslaton.de/news/VG-Giessen-stellt-Ausnahme-vom-Toetungsverbot-nach--45-Abs-7-S-1-Nr-5-BNatSchG-in-Frage--n736).

Politische Bewertung

Das Artenschutzrecht stellt neben rechtlichen Fragen des Umgangs mit artenschutzfachlichen Vorgaben eine zunehmend komplexe politische Herausforderung dar. Mit der Behebung rechtlicher Unsicherheiten liegt es in der Hand des Gesetzgebers, den Ausbau der Windenergie nunmehr endlich wieder voranzubringen.

Zum einen kann der europäische Gesetzgeber Abhilfe schaffen, in dem sich die Kräfte im Europäischen Parlament inhaltlich verständigen, um gemeinsam die europäischen Rechtsquellen der Vogelschutz- und FFH-Richtlinie dahingehend zu verändern, dass Infrastrukturmaßnahmen und insbesondere Erneuerbare-Energien-Projekte, die zur Energiewende beitragen, Priorität erlangen. Andererseits hat auch bereits die Generalanwältin Kokott die nicht unerheblichen Konkretisierungsmöglichkeiten der nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinien in innerstaatliches Recht hervorgehoben, die es zu nutzen gilt.

Angesichts dieser Entscheidung ist zu konstatieren:

Änderung der FFH und der Vogelschutzrichtlinie und zwar jetzt!